Ein Debattenbeitrag
Von Thomas Dohna
Kennen Sie das Toleranz-Paradoxon? Der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper hat es 1945 unter dem Eindruck des Zusammenbruchs maximal intoleranter Regimes veröffentlicht. Er fand heraus, dass maximal tolerante Haltungen und Gesellschaftsordnungen genau daran scheitern müssen: an ihrer maximalen und unbeschränkten Toleranz auch gegenüber den Intoleranten. „Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz“, schreibt Popper in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Er fährt fort: „Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Als intolerant erkennt Popper zwei Gruppen von Menschen. Solche, die sich dem rationalen Diskurs verweigern und dann solche, die zu Gewalt aufrufen oder sie gegen Andersdenkende und Anhänger anderer Ideologien anwenden. Zwei Kategorien von Intoleranz identifiziert Popper: Eine Intoleranz des ersten Grades ist für den Philosophen eine Haltung, die intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen ist, weil die Sitten und Gebräuche fremd sind. Die zweite Kategorie einer Intoleranz ist die Haltung, intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen zu sein, weil dessen Sitten und Gebräuche intolerant und gefährlich sind. Diese zweite Kategorie ist es, die die Toleranten vor den Intoleranten schützt.
Aber was ist nun Toleranz? In einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit wird ein schönes Beispiel zitiert: Ein chinesischer Herrscher trifft einen weisen Mönch. „Ich war immer tolerant“, sagt der Herrscher, „gegenüber Menschen mit großen Ohren. Wie hoch ist mein Verdienst?“ „Was hast du gegen Menschen mit großen Ohren?“, fragt der Mönch. „Nichts natürlich!“ „Dann kannst du ihnen gegenüber nicht tolerant gewesen sein.“ Mit anderen Worten, man kann nur gegenüber jemandem tolerant sein, gegen den man etwas hat, gegenüber etwas, dass man nicht vertritt, eine andere politische Meinung oder eine andere Weltanschauung etwa. Das ist für eine Demokratie und einen liberalen Rechtsstaat, den wir hier in Deutschland haben, überlebenswichtig. Offenbar bezieht sich Toleranz auf Haltungen, Meinungen und Weltanschauungen.
Toleranz ist kein laissez faire
Toleranz ist kein laissez faire, kein Nicht-Hinschauen. Toleranz ist keine Entschuldigung für mangelnde Zivilcourage, wie es in dem Zeit-Artikel heißt. Wer Unrecht oder Angriffe auf andere mit dem Hinweis auf seine Toleranz duldet, ist nicht tolerant, sondern feige. Toleranz ist auch nicht, eine Meinung widerspruchslos hinzunehmen. Damit würde derjenige der Intoleranz Tür und Tor öffnen, denn die andere Meinung nähme schnell den Charakter des Absoluten an, würde sie nur laut und häufig genug geäußert.
Wer einfordert, seine Meinung sei widerspruchslos hinzunehmen und Widersprüche als Angriff auf sein Recht der Meinungsfreiheit deklariert, zeigt eine Intoleranz ersten Grades. Er oder sie zeigt sich intolerant gegenüber Meinungen, die ihm fremd sind, beansprucht aber Toleranz, wenn nicht gar die Absolutheit für seine Meinung.
Wie verhält es sich nun gegenüber Fakten? Sind Fakten der Toleranz gegenüber zugänglich? Ist es tolerant, die postulierte Wahrheit der Rechnung zwei plus zwei seien fünf, hinzunehmen? Nein, falschen Tatsachenbehauptungen und Lügen gegenüber gibt es keine Toleranz. Ließe man an dieser Stelle Toleranz zu, wäre jede weitere mathematische Gleichung, jeder mathematische Beweis hinfällig. Sicher, Fakten und vor allem die Schlüsse daraus sind Interpretationen zugänglich. Interpretationen sind aber keine frei schwingenden Meinungen, sondere faktenbasierte Bewertungen des Vorgefundenen. Meinungen, so heißt es im dem Zeit-Artikel, sind das Produkt einmaliger Lebensumstände: Erfahrungen, Begegnungen, berufliche, finanzielle, familiäre Situation, Wohnort, Gesundheit, Alter, Bildung, also eben gerade nicht faktenbasierte Interpretationen eines Sachverhaltes. Meinungen also, und seien sie aus der eigenen Sicht heraus noch so abstrus, müssen der Toleranz zugänglich sein, Fakten und ihre Interpretationen dürfen es nicht sein.
Intolerant, um tolerant bleiben zu können
Und was hat das nun mit Leopoldshöhe zu tun? In einer Gruppe in einem Sozialen Medium war ein Streit darüber entbrannt, was Meinungsfreiheit beinhaltet und was Zensur sei. Anlass war ein Beitrag der Leopoldshöher Nachrichten zum Stand der Corona-Pandemie. Unter diesem Beitrag, und nicht nur unter diesem, verbreiteten Kommentatoren offensichtliche, längst widerlegte Behauptungen zu wissenschaftlichen Fakten, unbewiesene Unterstellungen gegenüber Medien, Politikern und Wissenschaftlern und offensichtliche Verschwörungsnarrative. Wir haben den Beitrag in der Gruppe gelöscht und damit auch die Kommentare dazu. Wir haben ihn durch einen mit einem Statement ersetzt, in dem wir feststellten, dass eben das oben Beschriebene geschehen sei und wir deswegen, um Wiederholungen zu verhindern, die Kommentarfunktion für zukünftige Beiträge in dieser Gruppe schließen. Kommentierungen auf unsere Facebookseite und auch auf dem Portal der Leopoldshöher Nachrichten seien weiterhin möglich. Betroffene sahen daraufhin das Grundrecht der Meinungsfreiheit stark eingeschränkt. Man müsse andere Meinungen aushalten, forderten sie. War es nun eine Beschränkung der Meinungsfreiheit, Zensur gar, falschen Behauptungen und Verschwörungsnarrativen die Verbreitungsmöglichkeit genommen zu haben? War es nicht, da sind wir uns sicher, es war aber intolerant im Sinne Poppers zweiter Kategorie: Es war intolerant gegenüber intoleranten Haltungen. Es war nötig, um die Möglichkeit, tolerant bleiben zu dürfen zu erhalten.
Zeit online: Ertragt euch! Von Volker Kitz, veröffentlicht am 7. März 2018.
Karl Popper: The Open Society and Its Enemies. Routledge, London 1945. Deutsche Übersetzung: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 1. Francke, Bern 1957; 8., bearb. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2003, ISBN 978-3-16-147801-7