Wenn der Brotkutscher erzählt

Der Brotkutscher Lothar Gieselmann erzählt im Erzählcafé des Sozialen Netzwerles Leopoldshöhe aus seinem Leben. Foto: Thomas Dohna
Der Brotkutscher Lothar Gieselmann erzählt im Erzählcafé des Sozialen Netzwerles Leopoldshöhe aus seinem Leben. Foto: Thomas Dohna

Lothar Gieselmann im Erzählcafé

Leopoldshöhe (ted). So etwas hat der Organisator des Erzählcafés im Leos Detlev Gadow noch nicht erlebt. Es wollten diesmal deutlich mehr Menschen daran teilnehmen als der Raum Platz bietet. Der Anlass war Lothar Gieselmann.

Gieselmann gehört zu den bekanntesten Menschen in Leopoldshöhe, zumindest bei den Älteren. Rund 50 Jahre war er als „Brotkutscher“, wie er sich selbst bezeichnet, im Ort unterwegs. Gieselmann ist in der Zeit zu einer Art wandelndem sozialen Treffpunkt geworden.

Gieselmann, heute deutlich über 80 Jahre alt, hat noch die letzten Jahre des Zweiten Weltkrieges miterlebt, die Zeit unmittelbar danach und das Wirtschaftswunder. Acht Jahre Volksschule brachte er hinter sich und damit die Schläge der Lehrerin, genannt Fräulein Flora, auch. Etliche ältere Leopoldshöher erinnern sich noch mit Grausen an die Frau.

Nach der Volksschule begann Gieselmann eine kaufmännische Lehre. Der Vater hatte eine Bäckerei, die Mutter einen kleinen Laden. Gleich nach der Lehre stieg Gieselmann mit 17 Jahren in die Bäckerei ein. Er bekam ein Fahrrad mit Brotanhänger und radelte seine Kunden ab. „In der Woche gab es Sechs-Pfünder-Brote, am Wochenende Weißbrot und Brötchen“, berichtete Gieselmann.

Lohn fürs Backen

Geld hatten die Menschen nur wenig, oft aber eine kleine Nebenerwerbslandwirtschaft. Ihr Getreide lieferten sie an der Mühle ab. Von dort holte Vater Gieselmann das Mehl und verbuk es zu Brot, jedes etwa 2,5 Kilogramm schwer. Wenn Lothar Gieselmann das Brot, besser die Brote, auslieferte, kassierte er den „Backelohn“, damals etwa 30 Pfennige.

Gieselmann ist ein begnadeter Erzähler. Seine Anekdoten spickt er mit kleinen Spitzen. Die Zuhörenden erkennen, was gemeint ist, lachen und grinsen, weil ihnen sofort die Gelegenheit oder die Person vor Augen steht. Mit 18 Jahren machte Gieselmann den Führerschein und fuhr fortan mit einem Lloyd mit Zweitaktmotor und Holzkarosserie durchs Dorf.

Bühne in der Alten Post

Gieselmann erinnerte an den großen Saal der Gaststätte zur Post am Marktplatz. Der habe eine Bühne gehabt. Den Sängerball habe es dort gegeben und eine Sportlerball auch. Karneval sei dort gefeiert worden. Dienstags sei das „Landfilm Vlotho“ ins Dorf gekommen und zeigte Filme. Damals gab es wie heute Reklame vor den Filmen.  „Kauf immer wieder bei Gieselmanns Frieda“ sei dort gelaufen. Den Spruch habe sich Rudi Strunk ausgedacht, später ehrenamtlicher Bürgermeister der Großgemeinde Leopoldshöhe.

Der Saal diente auch als Sporthalle für die Volksschule. „Wir Kinder haben den Saal geputzt“, berichtete Gieselmann. Bald war es allerdings mit dem Saal in alter Größe vorbei. Ein Teil wurde abgerissen und durch Neubauten ersetzt. „An jeder Ecke des Marktplatzes gab es eine Gastwirtschaft“, erinnerte Gieselmann. Halemeier sei schon vor 1933 der zentrale Treffpunkt von SA und SS in Leopoldshöhe und der Umgegend gewesen.

Erleichten hinterm Vorhang

Nach dem Krieg gingen viele zu Glietz, die meisten Männer, wie Gieselmann sich erinnerte. Wer sich erleichtern musste, trat hinter einen Vorhang. „Da war die Pissrinne“, berichtete Gieselmann mit einem Grinsen im Gesicht. Wenn dann doch einmal eine Frau im Gastraum war und die austreten musste, stellte der Wirt seine private Toilette zur Verfügung.

Im Alten Krug von Theo König sah Gieselmann zum ersten Mal Fernsehen. Die Fußball-Weltmeisterschaft lief, bei der Deutschland das erste Mal Weltmeister wurde. Von den Gasthäusern ist nur noch die Alte Post übriggeblieben.

Kies von der Weser

Gieselmann erinnerte an Max Langer und seinen Lastzug, mit dem der Fuhrunternehmer jeden Tag an die Weser gefahren sei, um Kies zu holen. Damals schon war Leopoldshöhe auf Wachstumskurs. Vertriebene und Geflüchtete fanden hier eine neue Heimat und bauten. Langer fuhr einen alten Militärlaster, betrieben mit Benzin. Eine halbe Stunde habe das Betanken jedes Mal gedauert, erinnerte sich Gieselmann.

Der Marktplatz sei richtig schön gewesen, damals nach dem Krieg. Kastanien standen um ihn herum. „Jaja“, raunte es durchs Publikum. Viele konnten sich offenbar noch daran erinnern. Der Marktplatz sei auch Sportplatz gewesen. Abends hätten die Turner dort geturnt, „unter Flutlicht“, sagte Gieselmann. Gemeint waren ein paar Lampen. Unter der Woche turnten die Schulen dort.

Traber am Kirchturm

Als Gieselmann zehn Jahre alt war, war die Traber-Truppe auf dem Marktplatz zu Gast. „Die haben ein Seil vom Kirchturm zum Marktplatz herunter gespannt und sind mit Motorrädern darauf gefahren“, berichtet Gieselmann, der selbst gern Motorrad gefahren ist. Die Traber-Truppe war seinerzeit eine weltweite Berühmtheit.

Von seinem Großvater weiß Gieselmann, dass er Ortsgruppenleiter der NSDAP in Leopoldshöhe war. Der habe es von 1933 geschafft, dass der spätere Diktator Adolf Hitler nach Leopoldshöhe gekommen sei und in einem 3.500 Menschen fassendes Zelt gesprochen habe. „Die Lipper haben ja geholfen, dass der an die Macht kam“, sagte Gieselmann.

TÜV auf dem Marktplatz

Auf dem Marktplatz seien Bullen- und Sauen gekört worden. Die Bullen seien von Hovedissen herauf, die Sauen von Lüking in Evenhausen herunter auf den Marktplatz gekommen. Bei einer Körung werden für die Zucht vorgesehene Tiere von Richtern bewertet.

Auf dem Marktplatz hätten auch die TÜV-Prüfungen für Motorräder, Trecker und „ganz paar Autos“ stattgefunden. Manche Prüfer hätten sich auf die Motorräder gesetzt, beschleunigt und dann die Bremsen geprüft. Andere hätten die Motorräder nur geschoben und gebremst. „Die trauten sich nicht“, meinte Gieselmann. Nach den Prüfungen ging es zu Glietz zur oft länger dauernden Nachbesprechung.

Häuser frisch gestrichen

Die 100-Jahr-Feier des Bestehens Leopoldshöhes sei 1952 dort gefeiert worden. „Jedes Haus war frisch gestrichen“, erinnerte sich Gieselmann. Der Motorsportclub Leopoldshöhe, in dem Gieselmann noch heute Mitglied ist, ein Aachener Turnier, ein Geschicklichkeitswettbewerb für Privatautos.

Gieselmann vergaß auch nicht die Frühjahrs- und Herbstkirmes, verwies auf das jüngst verkündete vorläufige Verbot von Veranstaltungen auf dem Marktplatz und darauf, dass der Marktplatz im Sommer das günstigste Freibad der Gegend sei.

Das Schild am Kreisverkehr

Viele andere Geschichten erzählte Gieselmann, nach einer guten Stunde von Erzähl-Café Organisator Detlev Gadow kaum zu stoppen. „Wollen Sie noch eine“, fragte Gieselmann sein Publikum – und das wollte.

Fast ganz am Schluss berichtete Gieselmann noch, wie ein Kreisverkehr an der Schötmarschen Straße zum „Lothar-Gieselmann-Kreisel“ geworden ist. Die Dinos, eine Gruppe ehemaliger Handballer des TuS Leopoldshöhe, hätten die Idee gehabt und ein Schild mit dem Namen aufgestellt. „Das ist seit 14 Tagen nicht mehr da“, sagte Gieselmann. Wer etwas wüsste, könne sich bei ihm melden.

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