Die soziale Kälte einiger Brunsheide-Kritiker
Debattenbeiträge geben die persönliche Meinung des Autors wider.
Von Thomas Dohna
Bei einem Punkt hat Andreas Brinkmann, stellvertretender Bürgermeister und SPD-Ratsmitglied, recht. In Leopoldshöhe darf jeder wohnen, ganz gleich welches Einkommen er oder sie hat. Möglicherweise meinen das einige Anwohner des neuen Wohngebietes Brunsheide Süd-Ost auch, allerdings nur dann, wenn Menschen, die nicht ihrem sozialen Status entsprechen, nicht in ihrer Nähe wohnen. „Soziale Wüste“, dieser Begriff ist mit Blick auf die Brunsheide während und nach der jüngsten Sitzung des Hochbau- und Planungsausschusses gefallen.
Dieser Begriff verrät mehr über die, die ihn äußern, als über die, die damit abqualifiziert werden sollen. Zum einen würde man sich, ginge es wirklich um ein dörfliches Leopoldshöhe, um Menschen kümmern, die ein zu geringes Einkommen haben, um auskömmlich leben zu können. Man würde sie nicht als „Soziale-Wüste“-Bewohner abqualifizieren, sondern als Mitglieder der Gesellschaft sehen, denen es nicht so gut geht, wie einem selbst, und denen geholfen werden muss.
Zum anderen gibt es offenbar, trotz einschlägiger Berichterstattung auch in den Leopoldshöher Nachrichten, krasse Vorurteile gegenüber Menschen, die einen Wohnberechtigungsschein erhalten und damit eine öffentlich geförderte Wohnung beziehen dürfen.
Zahl der Kinder entscheidend
Hier einige Beispiele: Da ist der alleinverdienende verheiratete Assistenzarzt mit zwei Kindern. Da ist das freiberuflich arbeitende Musiklehrerehepaar. Das ist der alleinverdienende Facharbeiter mit zwei Kindern, der bei der Freiwilligen Feuerwehr Leopoldshöhe seinen Dienst tut und auch die vermeintlich Bessergestellten bei einem Brand oder Unfall retten würde.
Da sind die alleinerziehende junge Polizeikommissarin mit zwei Kindern, die Friseurin, der geschiedene und unterhaltspflichtige Lehrer, der junge Verwaltungsfachangestellte mit Familie, die Medizinische Fachangestellte mit einem Kind und viele andere mehr, die in Leopoldshöhe und anderswo einen Wohnberechtigungsschein beantragen und erhalten können, abhängig vor allem von der Zahl der Kinder. Ganz zu schweigen von Rentnerinnen und Rentnern.
Ein Drittel lebt von 16.300 Euro
In Lippe betrug 2021 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes das jährliche verfügbares (Netto-) Einkommen privater Haushalte je Einwohner zwischen 24.000 und 25.000 Euro und liegt damit im bundesweiten Schnitt. Das ist der sogenannte Median- und nicht der Durchschnittswert. Der Medianwert ist der Wert, von dem aus 50 Prozent der Bevölkerung mehr und 50 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung haben. Beim Durchschnittswert würden die sehr hohen Einkommen den Wert deutlich nach oben treiben, bundesweit um etwa 5.000 Euro pro Person.
Dieser Medianwert ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes verfügen 40 Prozent der deutschen Bevölkerung und 50 Prozent der Ruheständler über weniger als 22.000 Euro, ein Drittel der deutschen Bevölkerung und ein Viertel der Ruheständler muss mit weniger als 16.300 Euro netto jährlich auskommen. Letztere sind vor allem Frauen.
Teil der „Sozialen Wüste“
Damit haben diese 40 Prozent der Bevölkerung Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein und damit auf eine sogenannte Sozialwohnung. Mit anderen Worten: diese lippischen Familien sind für einige Anwohner der Brunsheide Teil der „Sozialen Wüste“.
Die Berechnung des Einkommens für einen Wohnberechtigungsschein beruht auf mehreren Vorgaben. Vom Bruttoeinkommen werden je zwölf Prozent für Kranken- und Rentenversicherung sowie Steuern sowie die Werbungskosten abgezogen. Dann werden pro Kind 6.400 Euro pro Jahr hinzugerechnet. Das Kindergeld wird nicht angerechnet.
Menschen sollen ferngehalten werden
Eine Familie mit zwei Kindern kann so ein Bruttoeinkommen von etwa 62.000 Euro beziehen und einen Wohnberechtigungsschein bekommen. Zum Vergleich: In NRW beträgt das Tarif-Bruttoeinkommen einer ausgelernten Friseurin rund 24.000 Euro im Jahr. Sie hätte Anrecht auf eine öffentlich geförderte Wohnung in der Brunsheide und wäre aus Sicht einiger Anwohner Teil der „Sozialen Wüste“ dort.
Übrigens: In Leopoldshöhe gibt es rund 50 Obdachlose. Selbst wenn die alle in der Brunsheide unterkommen würden, wäre mit ihnen weniger als ein Viertel aller Wohnungen belegt.
Mit diesen Äußerungen über eine „Soziale Wüste“ ist deutlich geworden, dass es zumindest einigen Kritikern des Brunsheide-Vorhabens in erster Linie nicht um die Höhe der geplanten Gebäude und um die angeblich zu dichte Bebauung geht, sondern um soziale Segregation, um eine Art „Gated Community“, mit deren Hilfe Menschen, die dem eigenen gefühlten sozialen Status nicht entsprechen, ferngehalten werden sollen.
Vor fast 60 Jahren erschien ein Lied des Liedermachers Franz Josef Degenhardt: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“ hieß es. Es scheint, als hätte es von seiner Aktualität nichts verloren.
Quellen
- Wohnberechtigungsschein beantragen (Kreis Lippe)
- Einkommensverteilung in Deutschland (Bundeszentrale für politische Bildung)
- Deutschlandatlas der Bundesregierung: Verfügbares Einkommen
- Medizinische Fachangestellte Gehälter in Deutschland (stepstone)
- Gehalt Assistenzarzt (Portal praktischer Arzt)
- Gehalt Verwaltungsfachangestellte (Portal Lohnspiegel)
- Einkommen Facharbeiter (Portal jobvector)
- Einkommen Friseur/in (Agentur für Arbeit)
- Alleinerziehende, Rentner, Einwanderer: Wer wie viel Geld hat (Süddeutsche Zeitung)
- Einkommensverteilung in Deutschland (Statistisches Bundesamt)