Japan ist überall
Von Ulrich Schumann
Japanisches Kino ist gerade so angesagt wie nie zuvor / Filmtipps von Leos Kino
Rund 600 Filme werden pro Jahr in Japan hergestellt – eine schier unglaubliche Zahl. Oft sind sie von außerordentlicher Qualität, nur die wenigsten finden aber den Weg zu uns. Auf ganz unterschiedliche Weise haben Filminteressierte in Deutschland gerade die Möglichkeit, fernöstliches Kino besser kennenzulernen: in dem Anime „Der Junge und der Reiher“, in „Perfect Days“ von Wim Wenders, insbesondere aber in der ARTE-Mediathek, wo es eine Werkschau mit zehn Filmen des Regisseurs Yasujiro Ozu zu entdecken gibt.
Der Junge und der Reiher (Japan 2023), zurzeit im Kino
Es hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass japanische Zeichentrickfilme nicht unbedingt etwas für Kinder sind. In Deutschland hat sich um die Animes eine sehr große und bestens organisierte Fan-Struktur und -Kultur gebildet und nicht wenige, vor allem junge Filmfans bekommen leuchtende Augen, wenn von „Weathering With You“, „Das wandelnde Schloss“ oder dem Welterfolg „Your Name“ die Rede ist.
Oft, aber längst nicht immer, sind diese Filme mit dem Regisseur Hayao Miyazaki verbunden, der mittlerweile über 80 Jahre alt ist und hier seinen letzten Film vorlegt. „Der Junge und der Reiher“ erzählt die Geschichte des 12jähringen Mahito, der während eines Bombenangriffs auf Tokio im Zweiten Weltkrieg seine Mutter verliert. Mahito zieht mit seinem Vater aufs Land, wo er sich aber nicht wohlfühlt. Dann findet er einen mysteriösen Turm und einen sprechenden Graureiher. Eine abenteuerliche Reise beginnt.
„Der Junge und der Reiher“ ist ein Film, der vor Einfallsreichtum nur so strotzt. Mit ganz eigener Filmsprache werden unterschiedlichste Ebenen verknüpft und lassen ganz eigene Welten entstehen. Ein wunderbares Vermächtnis des großes Regisseurs Myazaki!
Perfect Days (Japan 2023), zuzeit im Kino
Wim Wenders ist immer für eine Überraschung gut und legt auch mit diesem Film wieder etwas völlig Neues vor. In ruhigen, fast meditativen Szenen zeigt er den Alltag eines bescheidenden Mannes in Tokio, dessen Job die Reinigung öffentlicher Toiletten ist. Hirayama begreift seinen Beruf als Berufung, er spricht kaum, geht täglich in ein Badehaus, fotografiert gerne und findet sein Glück im Alltag. Erst als überraschend eine Nichte Hirayamas auftaucht, muss er anfangen, zu kommunizieren.
Wim Wenders fast dokumentarischer Film ist zärtlich, ruhig und poetisch. Sein Hauptdarsteller Koji Yakusho, ein großer Star in Japan, spielt den bescheidenen Hirayama mit kleinen Gesten unglaublich ausdrucksstark, der Darstellerpreis in Cannes war der Lohn. „Perfect Days“ ist der japanische Oskar-Kandidat. Trotz starker Konkurrenz stehen die Cancen gut.
Yasujiro Ozu – Der Filmemacher des Glücks (eine Werkreihe mit 10 Filmen in der ARTE-Mediathek – noch bis zum 29.04.2024)
Ohne Übertreibung: diese zehn Filme für ein halbes Jahr kostenlos und legal ins Internet zu stellen, ist eine öffentlich-rechtliche Großtat. Programmkinos scheitern wegen der hohen Kosten regelmäßig an einer Retrospektive zu Yasujiro Ozu. Auf DVD und bei den gängigen Streaming-Portalen spielen japanische Klassiker kaum eine Rolle. Diese Chance muss man also unbedingt nutzen!
Yasujiro Ozu (1903 – 1963) gilt als der japanischste aller Filmemacher und stand im Westen stets im Schatten von Akira Kurosawa. Tatsächlich sind seine Filme auf den ersten Blick gewöhnungsbedürftig: Ozu lässt seine Protagonisten oft mitten in die Kamera sprechen, als Perspektive dient der Blick eines sitzenden Menschen, der sich neben den handelnden Figuren befindet. Der Zuschauer wird mit diesen Tricks sogartig in den Film katapultiert. Dabei sind Ozus Filme eher ruhig. Auch Unfreundliches wird lächelnd gesagt. Zwischendurch gibt es immer wieder Stilleben oder Naturbilder. Typisch Japan!
Für Einsteiger ist vor allem „Die Reise nach Tokio“ geeignet. Ozus berühmtester Film handelt von einem alten Ehepaar, das quer durch Japan reist, um noch einmal die längst erwachsenen Kinder zu besuchen. Doch niemand hat Zeit für die Alten, sie müssen mal hier, mal da übernachten. Sie scheinen die Kinder zu stören. Das Paar reist schließlich nach Hause, ist aber bemerkenswerterweise nicht enttäuscht, sondern zeigt Verständnis. Doch die Ehefrau wird auf dem Rückweg schwer krank.
„Die Reise nach Tokio“ ist derart universell, zeitlos und beeindruckend, dass dieser Film bei Bestenlisten grundsätzlich unter den ersten hundert ist, in der aktuellesten Liste von „Sight & Sound“ sogar auf Rang 4. Und dann sind da ja noch 9 weitere Filme von Yasujiro Ozu zu entdecken. Danke, ARTE!