Wie eine Gruppe Leopoldshöher versuchte, dem D-Day nahezukommen
Leopoldshöhe/Normandie (ted). Utah ist weit und flach. Ein schöner Strand, möchte man meinen. Von der Wasserlinie bei Ebbe sind es einige hundert Meter bis zu den Dünen. Einige hundert Meter, auf denen am 6. Juni 1944 tausende junger Männer starben oder verwundet wurden.
Heute, 80 Jahre danach, stehen auf dem Sand Militärfahrzeuge, um sie herum Menschen in Uniformen aus den 1940er Jahren. Manche rauchen Zigaretten, andere unterhalten sich, einige schauen zum Horizont.
Auf den Tag genau vor 80 Jahren war es hier anders. In den frühen Morgenstunden des 6. Juni 1944 begann hier und an weiteren Stränden der Normandie der sogenannte D-Day, der Debarking-Day, der Ausschiffungstag, der Beginn der Operation Overlord. In der Nacht zuvor waren sogenannte Pathfinder über dem Hinterland der Küste abgesprungen. Im „Normandy Victory Museum“ in Carentan les Marais ist von den US-amerikanischen und britischen Oberbefehlshabern angenommen Verlustraten von 80 Prozent für diese Einheiten die Rede.
Es war der dritte Tag dieser Art während des zweiten Weltkriegs auf dem europäischen Theater, wie die US-Amerikaner den Schauplatz bezeichneten. Ein vierter sollte folgen. Am 8. November 1942 waren die Alliierten mit mehr als 100.000 Mann in Marokko, Algerien und Tunesien gelandet. General Dwight D. Eisenhower, Spitzname Ike, befehligte die Operation Torch.
Nicht einmal ein Jahr später landeten die Alliierten am 10. Juli 1943 auf Sizilien. Wieder war Ike der Oberbefehlshaber. Ihn begleiten die US-Generäle George S. Patton, Omar Bradley und der Brite Bernard Montgomery und 160.000 Soldaten. Dann der D-Day in der Normandie. Am 15. August folgte die Operation Dragoner in Süd-Frankreich. Dort landeten fast 160.000 alliierte Soldaten.
Auf dem Strand sammeln sich Menschen. Sie gehen in Richtung Westen. Unter ihnen eine Gruppe Männer aus Leopoldshöhe. Seit vielen Jahren fahren sie einmal im Jahr zu historischen Stätten in Europa. Dieses Mal wollen sie der 80-jährigen Wiederkehr des D-Day nahekommen. Hier, an diesem Strand soll es eine Landung von Navy Seals aus der Luft und von See aus geben.
Die Männer sind sehr früh aufgestanden, rund 150 Kilometer von ihrem Quartier zum Strand gefahren. Näher zur Küste hatten sie trotz früher Buchung keine Unterkunft gefunden. „Utah-Beach“ ist schon ausgeschildert, als sie auf kleinen normannischen Straßen in einen nahezu endlosen Stau geraten. Franzosen, Niederländer, Belgier, Briten und einige wenige Deutsche wollen an den Strand, an dem sich am 6. Juni 1944 das Schicksal Europas endgültig entschied.
Auf dem Weg zu ihrem Ziel müssen sie immer wieder Straßensperrungen ausweichen. Nicht weit entfernt ist der US-amerikanische Präsident Joe Biden Gast des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Auf dem Friedhof von Colleville-sur-Mer ehren sie die in jenen Tagen gefallenen alliierten Soldaten. Es folgen die britisch-französische Feier in Ver-sur-Mer und die französisch-kanadische Feier in Courseulles. Zuvor hat Macron an die Omaha Beach geladen, nach Saint-Laurent-sur-Mer.
Die normannischen Gehöfte sind herausgeputzt. Überall hängen Fahnen und Fähnchen, französische britische, kanadische, keine deutschen. „Welcome Liberators!“ steht an manchen Häusern. Im Schritttempo fahren die Leopoldshöher schweigend ihrem Ziel entgegen. Auf einem Weg nahe des Strandes ist Schluss. Die Männer gehen zu Fuß weiter.
Militärfahrzeuge rauschen vorbei, Jeeps, Dodge-Kommandowagen, Lastwagen, alle besetzt mit Menschen in US-amerikanischen Uniformen, die denen nachempfunden sind, die die Soldaten vor 80 Jahren getragen haben mögen. Auch sie kommen nicht weiter, stellen ihre Autos ab. Die meisten von ihnen sprechen niederländisch und flämisch, einige französisch, nur wenige englisch. Sie tragen ihre Uniformen so selbstverständlich, als gehörten sie zur US-Armee.
Hunderte Menschen streben zum Strand. Niemand ist laut. Sind die Dünen überwunden, öffnet sich ein weiter Blick über das ruhige Wasser des Kanals. Es ist Ebbe. Vor 80 Jahren war das Wasser aufgewühlt. Eine kurze Wetterbesserung und Ebbe reichten den Alliierten, am 6. Juni 1944 die lange vorbereitete Operation Neptune zu beginnen.
In wenigen Minuten sollen die Navy-Seals abspringen. Schon länger kreisen US-amerikanische Transportmaschinen über dem Strand. Dann sehen die Männer aus Leopoldshöhe, wie kleine Punkte am strahlend blauen Himmel größer werden. Sie zeigen die Flaggen der USA, Frankreichs und Großbritanniens. Bald sind sie gelandet.
Die Männer kehren um, steigen durch die Dünen und lassen sich in einem kleinen Strandcafé nieder. Jeeps brummen vorbei. Unter die US-amerikanischen Uniformen mischen sich jetzt auch vereinzelt polnische. Die Polen stellten noch vor den Franzosen die viertgrößte D-Day-Streitmacht.
Nun wollen die Männer den amerikanischen Soldatenfriedhof Colleville-sur-Mer besuchen. Es ist kein Hinkommen. Auch am nächsten Tag gelingt es nicht. Die offiziellen Feierlichkeiten machen es unmöglich. Die Männer fahren zum deutschen Soldatenfriedhof La Combe. Dort hat die Deutsche Kriegsgräberfürsorge seit 1954 in der Normandie gefallenen Deutschen zusammengeführt.
In Reih‘ und Glied liegen die Grabplatten mit den Namen und Lebensdaten der Gefallenen. Viele sind kaum 20 Jahre alt geworden. Älter als 30 ist kaum einer. Hier und da sind Gräber geschmückt, eine Blume, ein Gesteck. An einem der Gräber stehen vergleichsweise viele Gestecke und Blumen. Es ist das eines SS-Mannes. Das Grab hat sich zu einer Kultstätte für deutsche Rechtsextremisten entwickelt.
Die Männer gehen schweigend durch die Reihen. Männer in Bundeswehr-Kampfanzügen, darunter einer mit den Abzeichen eines Hauptfeldwebels, begegnen ihnen. Am Monument für die Gefallenen liegt ein Blumenmeer. Die ehemaligen alliierten Feinde gedenken so den gefallenen Deutschen.
Die Normandie ist gespickt mit Museen zum D-Day. Die einen, wie an Dead-Mans-Corner, beleuchten einzelne Ereignisse rund um die Landung, andere beleuchten das große Ganze. Überall an der Küste stehen Überreste des Atlantikwalls. Die in Beton gegossene Brutalität des Zweiten Weltkriegs hielt die Alliierten nur wenige Stunden von der Eroberung der Küste an Utah Beach ab.
Die Männer aus Leopoldshöhe wollen so viel wie möglich mitnehmen, auch an den Tagen nach dem D-Day. Sie besuchen ein ehemaliges Hauptquartier der Alliierten. Es ist anlässlich des D-Day zu einem Militärlager gestaltet. Die Menschen treten den Deutschen überall freundlich auf Englisch oder Französisch entgegen. Sie sprechen sie allerdings so gut wie nie von sich aus an.
Die Leopoldshöher beobachten eine Panzervorführung des Panzermuseums der französischen Streitkräfte. Zu der haben die Franzosen einen sogenannten Königstiger, einen deutschen Panzer aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs mitgebracht. Sie stellen die technischen Details vor und ordnen ihn nüchtern in die militärische Technikgeschichte ein.
Eine Gruppe britischer Motorradfahrer hat an einem der Bunker ihre historischen Maschinen abgestellt. Sie wollen wie die Leopoldshöher von ferne eine Flugshow beobachten, die für die Staatsgäste Frankreichs gedacht ist. Historische und moderne Jagd- und Transportflugzeuge donnern über die Köpfe der Beobachter hinweg.
Hier wie überall herrscht eine gelassene, gedämpfte Stimmung. Die Ereignisse von vor 80 Jahren scheinen weit weg und gleichzeitig nah. Jeder hat eine Geschichte aus seiner Familie zu erzählen.