
Betroffene können Meldeplattform nutzen
Kreis Lippe. Von 1950 bis in die 1990er Jahre hinein wurden Mädchen und Jungen aus der ganzen Bundesrepublik regelmäßig in Kindererholungsheime verschickt. Doch statt Fürsorge und Gesundheitsförderung erlebten viele Betroffene nicht selten Zwang, Erniedrigungen und Gewalt. Ob es das auch im ehemaligen „Jugendwerk Detmold“ auf Norderney gegeben hat und wie generell die Umstände dort gewesen sind, sollen nun zwei Historiker im Auftrag des Kreises Lippe herausfinden, schreibt der Kreis Lippe in einer Mitteilung.
Erst vor wenigen Jahren hat die grundsätzliche Aufarbeitung dieses dunklen, bislang wenig beleuchteten Kapitels bundesdeutscher Geschichte begonnen. „Ein längst überfälliger Schritt“, findet Landrat Axel Lehmann. Denn: „Viele Verschickungskinder leiden bis heute unter den traumatischen Erlebnissen, die sie damals als Kinder gemacht haben. Umso wichtiger ist es, diese Erfahrungen und das Leid der Betroffenen sichtbar zu machen. Genau dazu will der Kreis Lippe seinen Beitrag leisten“, betont der Landrat. Auch das ehemalige „Jugendwerk Detmold“ auf Norderney diente von 1958 bis 1988 – anfangs noch unter anderer Trägerschaft – als Erholungsheim für Verschickungskinder. „Heutzutage wird das Haus natürlich ganz anders genutzt, trägt den Namen ‚Inselquartier‘ und ist jährlich beliebtes Ziel vieler Schulklassen und Gruppen“, weiß Olaf Peterschröder, Verwaltungsvorstand beim Kreis Lippe. Dennoch: „Da die Einrichtung im Laufe der Zeit in die Zuständigkeit des Kreises Lippe übergegangen ist, liegt uns eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Historie sehr am Herzen. Aus diesem Grund haben wir ein Forschungsprojekt dazu in Auftrag gegeben“, ergänzt Dr. Peterschröder.
Konkret werden die Historiker Hans-Walter Schmuhl und Sascha Topp in den kommenden Monaten die Geschehnisse im ehemaligen „Jugendwerk Detmold“ auf Norderney untersuchen und aufarbeiten. Beide haben bereits zu dem Thema geforscht und wissenschaftliche Erkenntnisse dazu gewonnen. „Allgemein lässt sich festhalten, dass die Situation in den verschiedenen Heimen höchst unterschiedlich war. Für das ehemalige ‚Jugendwerk Detmold‘ liegen bisher keine gesicherten Erkenntnisse vor“, berichtet Topp. „Die Auswertung aus einer Datenbank des Vereins ‚Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung‘ im ‚nexus Institut‘, die mehrere tausend Berichte ehemaliger Verschickungskinder enthält, hat aber erste Hinweise auf Missstände auch im ‚Jugendwerk Detmold‘ geliefert. In den kommenden Monaten werden wir ein genaueres Bild über die Umstände dort zeichnen können“, ergänzt Schmuhl.
Eine zentrale Rolle spielen dabei die Erlebnisse und Erinnerungen der Betroffenen. Diese stammten nicht unbedingt aus Lippe. Um mit den vermutlich in der ganzen Republik verstreuten, ehemaligen Verschickungskindern in Kontakt treten und ihre Erfahrungen und Erlebnisse dokumentieren zu können, haben die beiden Historiker eine Meldeplattform im Internet erstellt. Auf dieser können Betroffene ihre Erfahrungen schildern – anonym oder mit Angabe ihrer Kontaktdaten. „Solch eine Plattform ist bereits bei anderen Projekten zum Einsatz gekommen und hat sich bewährt“, berichtet Topp. Er und Schmuhl werden die dort eintreffenden Meldungen in den kommenden Monaten dokumentieren, auswerten und wenn möglich auch direkt mit Betroffenen Kontakt aufnehmen.
Diese Ergebnisse werden sie anschließend in einen größeren Kontext einordnen. Denn in einem ersten Schritt hatten die beiden Wissenschaftler bereits viele grundlegende Informationen über das ehemalige „Jugendwerk Detmold“ auf Norderney zusammengetragen, die sie sich bei intensiven Recherchen in verschiedenen Archiven in ganz Deutschland beschafft haben. „Dadurch haben wir inzwischen ein genaues Bild von den Rahmenbedingungen vor Ort, der organisatorischen Aufteilung oder verschiedenen baulichen Veränderungen im Laufe der Zeit“, berichtet Schmuhl.
„All das soll am Ende publiziert, der Öffentlichkeit sowie der Initiative Verschickungskinder zugänglich gemacht werden“, erklärt Karen Zereike, Leiterin des Eigenbetriebs Schulen des Kreises Lippe. Auch eine Ausstellung zu dem Thema sei denkbar. „Wichtig ist und war uns jedenfalls, das Thema wissenschaftlich fundiert aufarbeiten zu lassen. Und dafür haben wir mit den beiden renommierten Historikern genau die richtigen Experten an unserer Seite“, ist sich Dirk Menzel, Leiter des Fachdienstes Bildung des Kreises Lippe, sicher.
Betroffene, die ihre Erlebnisse als Verschickungskinder im „Jugendwerk Detmold“ auf Norderney schildern möchten, können dies auf folgender Meldeplattform vornehmen: https://kreisjugendwerk-detmold-norderney.meldeplattform.de/
Darüber hinaus stehen die Historiker per E-Mail an ukerlant@posteo.de sowie der Kreis Lippe telefonisch jeden Dienstag von 10 bis 12 Uhr unter (05231) 62-5828 und per E-Mail an verschickungskinder@kreis-lippe.de Ansprechpartner zur Verfügung.
Mehr über das Forschungsprojekt ist auf der Internetseite des Kreises Lippe unter www.kreis-lippe.de zu erfahren.