NABU Leopoldshöhe Naturinfo
Leopoldshöhe. Die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege ist das Insekt des Jahres 2022. Venistoraphidia nigricollis, wie sie in der Insektenforschung heißt, ist einfaszinierendes lebendiges Fossil. Langer Hals, große, filigrane, glasklare Flügel: So fliegt sie seit Millionen Jahren über die Erde, einst auf dem kompletten Erdball, wie die Forschung aus vielen Funden weiß, heute nur noch auf der nördlichen Erdhalbkugel, da sie kalte Winter für ihre Entwicklung braucht. Bis heute ist sie nicht vom Aussterben bedroht, wenngleich sie regional vereinzelt auf Roten Listen stehen kann.
Das Faszinierende an den zierlichen Fliegern mit den langen Hälsen: Schon zur Zeit der Dinosaurier sahen Kamelhalsfliegen kaum anders aus als heute, ihr Erscheinungsbild ist nahezu unverändert und unverwechselbar: „Sie haben mit Fliegen genauso wenig zu tun wie mit Käfern oder Schmetterlingen, sie sind eine ganz eigene Ordnung in der Welt der Insekten mit einem einzigartigen Bauplan,“ erläutert Professor Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut in Müncheberg. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums, das die Fliege, die keine Fliege ist, nun zum Insekt des Jahres 2022 gekürt hat. Warum kennen wir diese Überlebenskünstler nicht?
Des Rätsels Lösung ist ganz einfach, sagen die Spezialisten: Sie entwickeln sich da, wo wir sie nicht sehen, zum Beispiel in Baumrinden, und sie fliegen dort, wo wir nicht hinkommen: in Baumkronen. Auf Bäumen könnte man sie durchaus als Nützlinge sehen, so Hans Dudler, Insektenkundler beim NABU Leopoldshöhe. Sie fressen zum Beispiel Borkenkäferlarven, oder auf Obstbäumen Eier von Apfelwicklern. ”Ihre Funktion im Ökosystem wird unterschätzt. Bedauerlich, dass ihre Rolle bei der Bekämpfung der Borkenkäfer noch nicht untersucht ist”, sagt Dudler.
„Wohl fühlen sich Kamelhalsfliegen in lichten Waldstrukturen, da, wo eine große Artenvielfalt vorliegt, in strukturreichen Biotopen“, erklärt Hans Dudler. Schließlich braucht sie andere Insekten als Nahrungsbeute, und die wiederum gedeihen auch nur dort, wo sie passende Lebensräume finden. Da sie und ihre Artgenossen weltweit verbreitet waren, wenn auch heute nur in der nördlichen Hemisphäre, könnte man meinen, dass sie mit ihren großen Flügeln ganz schön weit herumfliegen. Doch weit gefehlt. Hans Dudler: „Kamelhalsfliegen sind standorttreu. Sie sind keine guten Flieger, sie flattern so herum. Nur ganz vereinzelt besiedeln Exemplare neue Lebensräume, das sind erstaunliche Ausnahmen. Warum sie das tun, zufällig vom Wind verdriftet werden, in weiten Distanzen woanders neue Populationen ansiedeln, wissen wir bis heute nicht. Es ist aber ein in der Natur weit verbreitetes Phänomen. Für die Natur ist diese Dynamik der Verbreitung existenziell.“
Sind Kamelhaarfliegen denn selbst existentiell wichtig in der Nahrungskette, für einen speziellen Fressfeind? „Nicht wirklich“, sagt Dudler. „Sie sind zu selten, um wirklich ein Sattmacher für andere Tiere zu sein. Eher so eine Art Abwechslung auf der Speisekarte.“ Also ein Zufallssnack für den Specht, wenn er ins Holz hackt, für Spinnen, denen sie ins Netz fliegen oder den Kleiber. Oder, wie der Insektenforscher sagt: „Sie sind einfach Teil der gesamten Insektenmasse, die als Futterquelle dient.“
Tatsächlich zählen Kamelhalsfliegen in der Biologie zu den so genannten „R-Strategen“. Das „R“ steht für Reproduktion: Das bedeutet, dass diese Tiere viele potentielle Nachkommen in die Welt setzen, in der Hoffnung, dass einzelne Exemplare überleben. Kamelhalsfliegen-Weibchen legen – nach Beendigung ihrer ein – bis dreijährigen Entwicklung als Larve mit neun bis 15 Häutungen – Eipakete mit bis zu 1.000 Eiern ab. Dass diese Strategie aufgeht, sieht man nicht zuletzt daran, dass wir Kamelhalsfliegen heute noch treffen können, Dinosaurier dagegen nicht.