Ein Sergeant mit Neuem Testament

Herta Strunk sitzt dort, wo vor 75 Jahren ein US-amerikanischer Sergeant saß und sein Neues Testament aus der Tasche zog. "Da wussten wir, dass uns nicht passieren wird", sagt sie. Foto: Thomas Dohna
Herta Strunk sitzt dort, wo vor 75 Jahren ein US-amerikanischer Sergeant saß und sein Neues Testament aus der Tasche zog. “Da wussten wir, dass uns nicht passieren wird”, sagt sie. Foto: Thomas Dohna

Herta Strunk, 91

Kurz nach Ostern 1945 kamen die Amerikaner nach Heipke, erinnert sich Herta Strunk. Sie war 16 Jahre alt, hatte ihr Pflichtjahr hinter sich und besuchte die Berufsschule in Bad Salzuflen. Einmal, da war sie mit einer Mitschülerin unterwegs dahin, gab es Fliegeralarm. „Da musste man zusehen, dass man sich irgendwo unterstellte“, erinnert sie sich. Die beiden Mädchen suchten Schutz in einem Waldstück. „Wenn Tiefflieger kamen, schossen sie auf alles.“

Ihr Bruder war 1944 in Bielefeld Soldat. Der hatte eine Bekannte am Theater, die Karten besorgt hatte. Bis zum Ostbahnhof kamen die Mädchen. Dort stellten sie ihre Fahrräder ab, weil es ab dort nur noch zu Fuß weiterging. „Bielefeld war eine Trümmerstadt.“ Als die Amerikaner kamen, hatten sie den Kampf um Oerlinghausen hinter sich, und den um Evenhausen. „Da wird bis zum letzten Mann gekämpft“, habe es geheißen, erzählt Herta Strunk.

Verwandte waren zunächst aus Bielefeld nach Oerlinghausen geflüchtet und dann nach Heipke. Die Tante hängte ein weißes Tuch aus dem Fenster. Als die Amerikaner kamen, stellten sie ihre Panzer auf der Heipker Kreuzung auf und durchsuchten die Häuser. Etwa eine Woche zuvor hatten noch deutsche Soldaten in der Scheune des kleinen Hofes übernachtet. „Der Meier zu Krentrup hat sie dann mit dem Pferdewagen weggebracht“, erinnert sich Herta Strunk, wohin, weiß sie nicht.

Eine Gruppe Amerikaner besetzte das Strunksche Haus und quartierte sich ein. Drei Schwestern, die Mutter und Herta Strunks Großmutter lebten in dem Haus. Der Vater war ins Ruhrgebiet dienstverpflichtet, der Bruder, ein Offizier, erst verwundet und dann an der Ostfront vermisst. „Wir konnten kein Englisch“, bedauert Herta Strunk. In der Nachbarschaft lebte aber eine aus dem Ruhrgebiet evakuierte Pfarrerswitwe mit ihrer Tochter. Die war Lehrerin gewesen und konnte englisch. „Die haben wir geholt.“ Denn die Großmutter lag schwer mit einer Lungenentzündung. Die Töchter hätten das Haus verlassen sollen. „Wir lassen Mutter und Oma nicht allein!“

Die Lehrerin erreichte, dass alle im Haus bleiben konnten und die Soldaten auch. Dunkel war es. „Wir hatten keinen Strom, nur ein paar Kerzenstummel auf dem Tisch“, erinnert sich Herta Strunk. An dem Abend machten sich der Sergeant und seine sieben Soldaten auf dem Herd der Familie etwas zu essen. Die Schwestern und ihre Mutter baten die Soldaten in die Küche, damit sie sich wärmen konnten. „Wir hatten ja keine Heizung“, erzählt Herta Strunk. Ihre Schwester hatte dort ihre Nähmaschine stehen.

Der Sergeant setzt sich neben die Maschine ans Fenster und nahm ein Neues Testament aus der Tasche. „Da waren wir froh und dankbar. Wenn der die Bibel nimmt, kann er uns nichts mehr antun.“ Die Amerikaner öffneten den Saal der Gaststätte Böger, heute die Mongolei. Er war voll mit aus Bielefeld ausgelagertem Tabak. In den Sälen anderen Gaststätten lagerten Schuhe oder Stoffe. Die Menschen plünderten die Säle. „Das war schlimm“, erinnert sich Herta Strunk. Ihre Mutter habe verboten, dass die Schwestern dorthin gehen.

Nach ein paar Tagen zogen die Amerikaner weiter nach Osten, der Weser entgegen. Am 21. April kapitulierte die Wehrmacht im Ruhrkessel. Herta Strunks Vater brauchte 14 Tage bis Heikpe. Am 8. Mai kapitulierte Deutschland. Herta Strunk kann sich nicht erinnern, was an dem Tag war. Die Sorge um die Großmutter beschäftigte die Familie und die um den Bruder. Er blieb vermisst. Später hat ihn die Familie für tot erklären lassen. „Das war hart“, sagt Herta Strunk, „ganz hart.“

Protokoll: Thomas Dohna