
Auf Gut Hovedissen waren die Amerikaner Befreier und Beschützer
Wilhelm Graf von der Schulenburg, 88
Für Wilhelm Graf von der Schulenburg begann das Ende des Krieges am 15. Februar 1945. Zuvor hatte der damals 13-jährge Schüler zwei heftige Tieffliegerangriffe erlebt. Schulenburg war Fahrschüler am Leopoldinum in Detmold. Beide Male war Schulenburg auf dem Weg zur Schule, als die Flieger den Zug angriffen. Beim ersten Mal ging alles gut aus, beim zweiten Mal trafen die Geschosse den Zug. Es gab Verwundete, nicht unter den Schülern. „Wir waren einfach schneller aus dem Zug als die anderen“, erinnert sich Schulenburg. Von Detmold-Nienhagen ging er zu Fuß nach Hause auf das Gut Hovedissen.
Die Monate danach empfand Schulenburg als eine ungebundene Zeit. Er durfte auf dem Gut helfen und mitarbeiten. „Das war eigentlich ganz entspannt.“ Einmal sollte er mit Pferd und Wagen nach Kachtenhausen fahren, um aus einer Tischlerei ein Möbelstück abzuholen. Am Bahnübergang kamen wieder Tiefflieger. Das Pferd ging durch. Erst kurz vor Hovedissen hatte der Junge das Pferd, einen Kaltblüter mit Namen Citrone, wieder im Griff. Im März arbeitete Schulenburg auf dem Feld. „Es gab immer die Sorge, dass Tiefflieger uns auf dem Feld entdeckten und angriffen.“ Der 1. April war friedlich, jedenfalls auf Hovedissen. Die Schüsse vom Kampf um Oerlinghausen waren zu hören. Der in den letzten Tagen des Krieges einberufene Volkssturm beriet, wann die eben in Richtung Schuckenbaum aufgebaute Panzersperre am besten zu beseitigen sei. Machte man das zu früh, hätte die SS die Volkssturm-Männer erschießen können. Machten sie es zu spät, würden die Amerikaner die Häuser um die Panzersperre herum zerschießen. An einem Abend räumten sie die Sperre weg. Die ersten amerikanischen Panzer sah Schulenburg an der Heipker Kreuzung. „Die sind gleich weiter nach Schötmar gerollt“, berichtet Schulenburg.
Den Gasthof König am Marktplatz richteten amerikanische Truppen als Quartier her. Die Mutter verhandelte mit den Amerikanern. Sie fürchtete Überfälle. „Hier war viel Plünderei“, sagt Schulenburg. Höfe wurden überfallen, die Bauern getötet. Ehemalige Gefangene und „ganz andere Leute“ waren die Täter. Die Amerikaner hängten ein Schild an das Gut: „Off limits“. Damit durfte niemand das Gebäude der Saatzuchtfirma betreten. Das auf Hovedissen erzeugte Saatgut sollte erhalten bleiben. Die Mutter Schulenburgs erreichte, dass die Amerikaner bei einem Überfall mit Hilfe einer Sirene alarmiert werden. Eines Nachts gab es Lärm auf dem Gelände. Der Vater ließ die Sirene laufen. Nach drei Minuten waren die Amerikaner da. „Das hätte sich herumgesprochen, wenn sie nicht gekommen wären“, sagt Schulenburg. Überfälle wären sicher gewesen. Die Amerikaner haben nie erfahren, dass ein losgerissener Bulle den Radau verursachte.
Schulenburgs Empfindungen am 1. April waren gemischt. Einerseits gab es ein Gefühl der Befreiung. Andererseits war Deutschland zerstört, würde aufgeteilt, kurz und klein gemacht. „Deutschland ist kaputt. Das hat mich als Jungen traurig gemacht“, sagt Schulenburg. Dass am Attentat von 20. Juli 1944 ein Schulenburg beteiligt war, gab ihm die Gewissheit, dass das Attentat wohl richtig gewesen war. „Deshalb war der 1. April für mich auch Befreiung vom Nationalsozialismus“, sagte Schulenburg.
Erst lebten Ausgebombte und Evakuierte aus Bielefeld mit auf dem Gut. Später kamen Verwandte, Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten. Im Dezember 1945 ging die Schule wieder los, diesmal in Bad Salzuflen. Im Winter kam ein englischer „Education Officer“ in die Klasse. Er sah sich die Schulbücher an und zeigte Filme, die bei der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen entstanden waren. „Grauenvoll“, sagt Schulenburg, „wir hatten uns nicht vorstellen können, dass so etwas in Deutschland geschehen konnte.“ Der Offizier diskutierte sachlich mit ihnen uns darüber. „Ohne uns Jungen Vorwürfe zu machen“, sagt Schulenburg. Er scheint davon noch immer beeindruckt.
Protokoll: Thomas Dohna